„Ann Arbor, gut, dass du schon da bist, du kannst gleich in Zimmer 1.“ Normalerweise beginnt der Morgen in unserer Kindernotaufnahme eher ruhig, die Kleinen schlafen um acht Uhr einfach noch. Heute allerdings nicht alle und so kann ich mich früh am Morgen voller Tatendrang auf den 8 Monate alten Louis stürzen, der durch eine Magen-Darm-Infektion viel Flüssigkeit verloren hat. Bei der Anamnese hake ich in meinem Kopf ganz automatisch meine Liste mit Fragen ab. Wie häufig hat er erbrochen? Wieviel trinkt er noch? Weint er mit Tränen? War die Windel heute morgen feucht? Gastroenteritis zählt zu unserem Standardprogramm, es vergeht kaum ein Tag ohne, und so ist Louis schnell versorgt.
Im nächsten Zimmer sitzt die 2-jährige Ina, der Blut aus dem Ohr tropft. Irgendwie finde ich das ein klein wenig beunruhigend. Die Mutter dagegen ist ganz entspannt
Ina hat mit einem Wattestäbchen in ihrem Ohr herumgestochert und mit dem Stuhl geschaukelt. Ganz plötzlich ist der Stuhl umgefallen, ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Dann ist das Watterstäbchen in ihrem Ohr festgesteckt, sie ist nämlich genau auf die Seite gefallen. Und als ich das Wattestäbchen dann heruasgezogen habe, hat es angefangen zu Bluten
Marie, 8 Jahre alt, hat heute morgen ein Mal gehustet.
Warum sind sie nicht zum Kinderarzt gegangen?
Der hat Urlaub und zu der Vertretung wollten wir nicht gehen.
Mehmet hat eine schmierige, blutige Wunde unter dem Auge
Mein Cousin und ich haben Dart gespielt und als ich zur Toilette gehen wollte, hat er mich mit dem Dartpfeil im Gesicht getroffen. Der ist sogar stecken geblieben, das war total cool. Meine Mutter hat dann gleich Butter darauf geschmiert, da verheilt die Wunder besser.
Und so arbeite ich mich weiter durch den Tag. Lennart ist vom Hochbett gefallen, Sina hatte einen Krampfanfall, Chantal hat Ohrenschmerzen, Kim hat chronische Kopfschmerzen, Marko hat eine Blinddarmentzündung. Massimo hat eine geschwollene Gesichtshälfte und bekommt noch seinen eigenen Blogeintrag. Christian hat einen harten, geschwollenen Lymphknoten. Abszess? Katzenkratzkrankheit? Lymphknotenkrebs?
Ehe ich mich versehe ist es Abend geworden, an eine wirkliche Mittagspause war nicht zu denken. Wieviele Kinder ich heute behandelt habe, weiß ich gar nicht mehr. Es fehlt noch der Arztbrief von Alexander, aber wer war das gleich nochmal? Der Junge mit Asthma oder der mit dem geschwollenen Knie?
10 Minuten vor Feierabend will ich mir noch einen letzten Patienten ansehen. Er hat einen Hautausschlag und ist daher in unserem Isolationszimmer, dem kleinsten Zimmer der ganzen Notaufnahme. Schon auf dem Flur höre ich laute Schreie. Das kann ja heiter werden. Ich atme tief durch, öffne die Tür und betrete das Zimmer. Gegen den Geräuschpegel hier ist ein Jahrmarkt die reinste Ruheoase. 2 schreiende 1-jährige Jungs mit roten Flecken, 2 Mütter, 1 Großmutter. Die beiden sind Cousins und da dachten die Mütter, man könne ja beide gleichzeitig untersuchen und behandeln. Und so kämpfe ich mich nicht durch eine, sondern durch zwei Anamnesen gleichzeitig und versuche mir zu merken, wer der beiden Malek und wer Johannes ist. Und welches Kind gehört jetzt gleich nochmal zu welcher Mutter? Dazwischen immer wieder die Einwürfe der Großmutter und lange Diskussionen auf bulgarisch. Während Johannes Mutter gut deutsch spricht und auch bei der Untersuchung gut mitarbeitet, ist Maleks Mutter völlig überfordert und weiß weder seit wann ihr Kind diese Flecken hat noch ob es Fieber hatte. Ich bin froh, als ich das Zimmer kurz für 5 Minuten verlassen kann, weil die Holzspatel mal wieder leer sind. Einmal durchatmen und Luft holen, bevor ich mich wieder ins Getümmel und Geschrei stürze. Am Ende fehlt nur noch die Urinprobe, auf die ich über eine Stunde warten muss. Einjährige kann man eben zum Wasserlassen nicht zwingen. Am Ende bedanken sich alle ganz herzlich und die Großmutter fragt mich ganz mitfühlend
Wie halten Sie das eigentlich den ganzen Tag aus?
Da muss ich lachen.
Wissen Sie, man härtet ab mit der Zeit. Und meistens hat man ja nur einen Schreihals auf einmal.
Da lacht auch sie. Und ich gehe nach 2 Überstunden mit nur 10 Minuten Mittagspause gut gelaunt und mit einem Grinsen im Gesicht nach Hause.