Eigentlich sollte ich mich nach vier Wochen bereits daran gewöhnt haben, dass meine Abteilung ihre PJler am liebsten ignoriert und dass man eigentlich jede OP, die man assistieren darf, mit einem Freudenfest feiern sollte. Trotzdem bin ich genervt, ich war seit einer Woche nicht mehr steril am Tisch – irgendwann reicht es, schließlich soll ich hier etwas über Chirurgie lernen und nicht wie man am besten sinnlos in der Gegend herumsteht.
Im Nachbarsaal findet heute eine gemeinsame OP mit den gastrointestinalen Chirurgen statt. Der Patient hat einen Dickdarmtumor, der vor Jahren entfernt wurde und nun als Rezidiv sowohl ins Bauchfell als auch in die Leber metastasiert hat. Da Chemotherapien und lokale Verfahren nicht erfolgreich waren, wird nun zu einer recht neuen, radikalen Methode gegriffen, die ihm eine letzte Chance ermöglichen soll: zunächst werden alle Metastasen im Bauchfell abgetragen und aus der Leber reseziert. Anschließend werden Chemotherapeutika für 90 Minuten direkt in den Bauchraum des Patienten geleitet (hypertherme intraperitoneale Chemotherapie, HIPEC) um dort direkt die verbleibenden Tumorzellen zu bekämpfen. Eine spannende OP, für die insgesamt 12-15 Stunden geplant sind.
Der gastrointestinale Assistenzarzt kommt zu mir und fragt mich, ob ich nur den leberchirurgischen Teil oder die gesamte OP assistieren würde. Ich antworte ihm, dass ich mit ziemlicher Sicherheit den leberchirurgischen Abschnitt nicht assistieren würde, aber überhaupt gar nichts gegen die gastrointestinale Chirurgie einzuwenden hätte. 10 Minuten später stehe ich steril am OP-Tisch und kann mein Glück kaum fassen. Es folgen die vielleicht besten 9 Stunden, die ich hier bisher im OP hatte. Der Professor erklärt mir jeden einzelnen Schritt des Eingriffs, lässt mich alle Tumore tasten und beantwortet freudig meine Fragen. Im Gegenzug muss ich ihm permanent die absurdesten Fragen zur Allgemeinbildung beantworten – Erzähl mir die Geschichte von Orpheus und Eurydike! Wer hat die Feuerwerksmusik geschrieben? Was ist der Unterschied zwischen einem t- und einem u-Test? Wie lautet das erste Newton’sche Gesetz? Ich glaube, ich habe mich ganz gut geschlagen, auch wenn ich nicht wusste, wer das Libretto für die Zauberflöte geschrieben hat, und habe sowohl medizinisch als auch allgemeinbildungstechnisch einiges gelernt. Warum kann es in meiner eigenen Abteilung nicht genauso sein?
Am nächsten Tag bleibe ich meiner abtrünnigen Linie treu und frage einen weiteren gestrointestinalchirurgischen Professor, ob ich bei seiner laparoskopischen OP zuschauen dürfte. Er ist zwar etwas mürrisch und spricht nicht wirklich mit mir, aber zuschauen darf ich. Nachmittags sitze ich in der Kaffeeküche, als er vorbei läuft, umdreht und zu mir kommt. „Sag mal, Ann Arbor, du willst doch Hepatologin werden (keine Ahnung, woher er das weiß!). Ich mache da später eine OP in Saal 4, komm doch mit.“ Ich bin ganz baff, von meiner eigenen Abteilung hat mir noch nie irgendjemand Bescheid gesagt, wenn eine OP stattfindet. Natürlich komme ich in Saal 4, auch wenn ich damit rechne, nur zuschauen zu dürfen. Doch siehe da, ich darf assistieren, sogar als 1. Assistenz, also nicht wie üblich zu dritt, sondern nur der Operateur und ich. Und auch hier wird mir wieder jedes kleinste Detail erklärt.
Ich kann mein Glück kaum fassen. Fremdgehen ist schön!
Ann Arbor