Arzt an Bord

Zu Risiken und Nebenwirkungen…..

Frau Jung hat Fragen und Frau Ivanova hat keine Zeit

Ein Kommentar

Orthopädix letzter Artikel hat auch bei mir ein paar Gedanken losgetreten. Ich musste wieder an zwei ganz unterschiedliche Patientinnen denken, die mir in den letzten Wochen in der Sprechstunde begegnet sind:

Frau Jung ist extra aus der Schweiz angereist. Sie hat jetzt schon über eine halbe Stunde gewartet, weil der Chef noch im OP stand. Das passt ihr nicht und das teilt sie uns auch sofort mit. Alles an ihr wirkt ein bisschen forsch. Der weite Schritt mit dem sie zur Tür herein kommt, ihr fester Händedruck, der Ruck, mit dem sie den Stuhl zurück zieht. Sie sieht deutlich jünger aus als die 60 Jahre, die auf ihrer Akte stehen. Lange naturrote Haare fallen über ihre Schulter und sie streicht sie immer wieder zurück. Das wirkt wie eine Geste der Unsicherheit, die so gar nicht zu dieser selbstbewussten Frau passen mag. Ihre Augenlider sind dick grün geschminkt, die Lippen knallrot. Als der Chef das Wort ergreift, kann er noch nicht einmal den ersten Satz beenden, bevor sie ihm ins Wort fällt.

Frau Ivanova sitzt ganz klein auf ihrem Stuhl im Wartebereich. Sie ist schon gut über 60 und das sieht man ihr auch an. Eine zierliche Frau, irgendwie genauso grau wie ihre Haare. Sie kommt aus Russland, spricht aber gut Deutsch. Offenbar lebt sie schon länger hier. Sie ist alleine gekommen und genauso wirkt sie auch. Als Oberarzt Michael Schneider sie ins Sprechzimmer bittet, erschrickt sie ein bisschen. Dann nimmt sie ihr Tasche und folgt uns. Sie setzt sich auf den Stuhl am Schreibtisch und blickt uns aufmerksam an.

Frau Jung wird von ihrem Frauenarzt geschickt. Er hat bei der Vorsorge eine etwas erhöht aufgebaute Gebärmutterschleimhaut festgestellt und möchte nun, dass seine Patientin eine Ausschabung erhält. Der kleinste und wahrscheinlich am häufigsten durchgeführteste Eingriff in der Gynäkologie und absolute Routine. Frau Jung ist sich da nicht so sicher. Das sei ja schon ein Risiko. Und mit der Narkose… Zwei Sätze später ist ihr plötzlich wieder wichtiger, dass sie noch am selben Tag nach hause gehen kann. Nein, eigentlich möchte sie sogar direkt wieder in die Schweiz zurück fahren. Der Chef rät ihr sehr davon ab, aber die Nachwirkungen der Narkose, die sie gerade eben noch so kritisch gesehen hat, scheinen sie jetzt nicht mehr zu überzeugen.

Frau Ivanova ist im Haus bereits bekannt. Vor 5 Jahren wurde sie schon einmal hier behandelt. Brustkrebs lautete damals die Diagnose. Nach einem langen Marathon von OP, Bestrahlung und Hormontherapie war sie erst vor einigen Wochen zur letzten Kontrolle da. Alles in Ordnung mit der Brust. Dann kam jemand auf die Idee einen gynäkologischen Ultraschall zu machen. Irgendetwas schien mit der Gebärmutter nicht zu stimmen. Man hat eine Gewebeprobe entnommen und jetzt ist das Ergebnis der Histo da. Und das ist schlimmer als erwartet: Ein G3 Cervixkarzinom. Die Stagingbefunde sind genauso entmutigend: Der Tumor ist groß und wohl schon über längere Zeit gewachsen. Die Bildgebung lässt keine sichere Abgrenzung des Tumors zu. Frau Ivanova ist ganz still, während sie zuhört. Michael erklärt ihr, dass wir gerne wissen möchten, ob der Tumor bereits in Blase oder Darm hineingewachsen ist. Dann erst könne man über Therapiemöglichkeiten entscheiden. Deshalb würden wir eine Blasen- und eine Darmspiegelung machen. Sie nickt.

Frau Jung scheint sich gar nicht so recht für die Ausführungen des Chefs und die Bilder des Aufklärungsbogens, in denen er herummalt, zu interessieren. Sie fragt sich, wie man das denn so lange übersehen konnte mir ihrer Gebärmutterschleimhaut. Das müsse doch jedem Gynäkologen auffallen. Sie ist nämlich schon seit Jahren regelmäßig zur Kontrolle bei Prof. Schön. Ein guter Bekannter übrigens, aber das sei ja nun auch nicht immer das Beste, nicht wahr? Sie wirft dem Chef einen tiefen Blick zu. Fehlt nur noch, dass sie ihm die Hand auf den Arm legt. Deshalb hat sie jetzt auch den Arzt gewechselt und der hat das ja sofort gesehen. Wie konnte Prof. Schön nur all die Zeit…. Der Chef wird ein bisschen ungeduldig und bittet Sie in den Untersuchungsraum um sich selbst ein Bild zu machen.

Frau Ivanova hat immer noch nichts gesagt. Michael wirkt ein bisschen verzweifelt. Er redet und redet, versucht irgendwie positive Möglichkeiten hervorzuheben. Wenn der Tumor nicht in Blase und Darm eingebrochen ist, kann man operieren und dann sind die Aussichten nicht so schlecht. Ansonsten würde man es mit einer Bestrahlung versuchen. Schließlich entsteht eine Pause und dann hat Frau Ivanova doch eine Frage. Wie lange die Bestrahlung denn dauern würde? Ihr Visum läuft nämlich bald ab und dann muss sie wieder zurück nach Russland. Und zurück nach Deutschland kann sie erst, wenn sie dort im Januar einen neuen Pass bekommt. Wie lange die Therapie dauert, hängt aber davon ab, was die weiteren Untersuchungen ergeben. Michael kann ihr keine richtige Antwort geben. Aber es ist ihr wichtig. Wäre es ein Monat, oder zwei? Bis Dezember? Dann muss sie nämlich zurück. Micheal beruhigt sie. Bis Dezember wird es wohl nicht dauern. Sie sinkt wieder in ihren Stuhl zurück und hört stumm zu als Michael von strahlenden Kapseln erzählt, die man in die Scheide einlegen kann, anstatt regelmäßig zur Strahlentherapie in die Klinik zu kommen.

Frau Jung redet während der gesamten Untersuchung. Die assistierende Schwester wirft mir einen Blick zu und verdreht die Augen. Es geht immer noch um Prof. Schön, seine möglichen Versäumnisse und inzwischen auch um Hormonpräparate, die er ihr in den Wechseljahren verschrieben hat. Ob da ein Zusammenhang bestehen könnte. Das kann der Chef nicht einmal verneinen. Aber absetzten will sie die Medikamente auch nicht, weil Hitzewallungen und so, das erträgt sie nicht. Nie im Leben. Wenn ihr Körper da einfach so außer Kontrolle gerät. Ob es eine Alternative gäbe? Aber das hätte der Professor doch wissen müssen…
Der Befund ist im Ultraschall nicht besonders dramatisch. Kein Anhalt für irgendwelche weiteren Probleme. Der Chef komplementiert sie möglichst schnell wieder vom Stuhl und schickt sie weiter zur Anästhesie, damit sie dort klärt, wie das mit dem Heimfahren geht. Als sie zur Tür hinaus ist, stellen wir fest, dass sie den Aufklärungsbogen am Ende gar nicht unterschrieben hat. Ich renne ihr auf dem Flur hinterher, halte ihr Stift und Zettel hin, wünsche ihr alles Gute für die OP und atme tief durch, als sie durch die Glastür verschwindet.

Plötzlich geht ein Ruck durch Frau Ivanova. Michael hat inzwischen dreimal das Gleiche erzählt in der Hoffnung auf eine Reaktion. Jetzt richtet sie sich auf, schaut ihn an und sagt: „Okay.“ Dann nickt sie und sagt nochmal: „Okay. Wann soll ich morgen da sein? Was muss ich mitbringen? Bleibe ich über Nacht?“ Ich bin verblüfft, Michael wirkt erleichtert. Jetzt nimmt er den Aufklärungsbogen zur Hand und bespricht mit ihr, wie die Untersuchungen am nächsten Tag ablaufen. Er betont noch einmal, dass die Therapie bis Weihnachten höchst wahrscheinlich abgeschlossen sei. Wie sie genau aussieht wird sich zeigen. Er wird ihren Fall in der nächsten Tumorkonferenz vorstellen, wenn alle Befunde da sind. Frau Ivanova fragt nach, was das bedeutet und wann es soweit sei. Sie möchte gerne Kopien von allen Befunden haben. Das hatte sie bei ihrem Brustkrebs auch. Schließlich sagt sie, sie habe verstanden, unterschreibt und huscht zur Tür hinaus. Ich blicke ihr sprachlos hinterher, während Michael die Papiere zusammenschiebt. Wir bleiben beide noch einen Moment sitzen, bevor wir uns wieder ins Getümmel der Ambulanz stürzen. Frau Ivanova ist bereits weg.

Seit Freitag frage ich mich, wer von diesen beiden Damen wohl mehr Angst hatte.

– Spekulantin

Autor: Spekulantin

Die kochen alle nur mit Wasser

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